'Wenn Mama trinkt',

Lautstark oder durch Zettelchen an der Weinflasche hat sie versucht, mit ihrer alkoholkranken Mutter zu sprechen. Nichts half, bis sie und ihre beiden Geschwister ans Ende ihrer Kräfte gelangen. Mit Hilfe der Blaukreuz-Gruppe in Krefeld lernt die 22-Jährige, nicht weiterhin die Verantwortung für das Verhalten der Mutter zu tragen. Sie ist Christin geworden, versucht ihre Vergangenheit zu akzeptieren, und will irgendwann ihrer Mutter vergeben können.

Sie schreibt: Bei uns zu Hause war es anders als bei meinen Freunden. Meine beiden Geschwister und ich mussten nicht pünktlich zum Essen zu Hause sein. Meine Mutter rief auch nicht ständig an, um sich nach uns Kindern zu erkundigen. Sie schlief viel und trank viel Wein. Als Jugendliche verstanden wir mehr und mehr, was mit unserer Mutter passierte. Wir beobachteten ihr Trinkverhalten und unterhielten uns darüber miteinander. Mit unserer Mutter selbst redeten wir auch und sogar mit einer Freundin von ihr. In den Gesprächen schimmerte Hoffnung, aber immer wieder wurden wir enttäuscht. Es änderte sich nichts. Besonders peinlich war die Konfirmation meiner jüngeren Schwester vor sechs Jahren. Mama stank fürchterlich nach Wein. Sogar auf den Fotos erkennt man, dass sie angetrunken war. Ich habe mich für sie geschämt. Immer seltener brachte ich Freundinnen mit nach Hause und ich entwickelte viel Fantasie beim Erfinden von Ausreden und Lügengeschichten. Auch lernte ich zu schauspielern, damit keiner merkte, wie schlecht es mir bei dem Gedanken an zuhause ging. Oft lag ich abends im Bett und dachte darüber nach, wie es wäre, wenn Mama die Treppe herunterstürzt oder einen Autounfall hat, weil sie so betrunken ist. Enttäuschungen und Lügengeschichten! Eines Nachts wurde ich von einem lauten Scheppern wach. Ich sprang aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer. Mama war gefallen. Ich half ihr hoch und brachte sie ins Bad. Ihr Anblick, ihr Geruch, es war ekelhaft. Ich war wütend und traurig zugleich. Die ganze Zeit als sie sich umzog und ihre Zähne putzte, stand ich daneben und hielt sie fest, damit sie nicht wieder umfiel. Das war wohl das schlimmste Ereignis mit meiner alkoholisierten Mutter. Zurück in meinem Bett konnte ich die Tränen nicht mehr bremsen und ich betete zu Gott um Hilfe. Meine Mutter lernte einen Mann kennen, wenige Monate später zog er bei uns ein. Nun trank sie abends mit ihm zusammen. Mein großer Bruder zog von zu Hause aus und von da an waren meine Schwester und ich allein zu Haus mit zwei Erwachsenen, die jeden Tag Alkohol tranken. Wir kontrollierten alles, was sie trank. Auch ihr morgendlicher Tomatensaft roch nach Wein. Das Weihnachtsfest vor zwei Jahren sollte ein Familienfest werden. Doch es wurde zum Fiasko. Während mein Bruder das Essen kochte und wir anderen in die Kirche gingen, lag meine Mutter im Bett. Sie sah schrecklich aus. Beim Abendessen stand sie auf, ging zur Toilette und musste sich übergeben. Ich war fassungslos und am Ende meiner Kräfte. Doch nun sahen nicht nur meine Geschwister und ich, sondern auch die anderen Gäste, was mit meiner Mutter los war. Das tat gut. Sie empfahlen ihr, zum Arzt zu gehen. Und ich befolgte den Rat einer Bekannten und nahm Kontakt mit der Blaukreuz-Gruppe in Krefeld auf. Weniger Schweigen und mehr Gefühlsäußerungen. Meine Schwester und ich besuchten die Gruppenstunde. Es war komisch. Alle sahen uns an. Es gab nur wenige Angehörige und wir waren mit Abstand die Jüngsten. Als wir von unserer Mutter erzählt hatten, redeten alle auf uns ein. Aber wir gingen auch in der nächsten Woche wieder zu diesem Treffen. Ich lud auch meine Mutter zur Blaukreuz-Gruppe ein, aber sie wollte nicht. Ich begann, sie anzuschreien. Es nützte nichts. Irgendwann beschloss ich, ihr meine Gefühle per Zettelchen mitzuteilen. Jeden Morgen klebte ich ihr einen Papierschnipsel auf ihre Weinflasche im Kühlschrank. Darauf stand zum Beispiel: "Warum machst du dich so kaputt?", "Ich verstehe dich nicht.", "Ich liebe dich." oder "Wir können dir helfen." Die Zeit veränderte etwas, meine Schwester und ich veränderten uns. Das Schweigen und die Lügen wurden weniger. Mir ging es besser. Ich suchte mir eine eigene Wohnung und einige Zeit später zog auch meine jüngere Schwester zu mir. Wir hatten immer alles gemeinsam durchgestanden und das würden wir auch künftig schaffen. Offenheit als Lösungsweg. Die Blaukreuz-Gruppe hat uns sehr geholfen. Sie ist für uns ein Ort, an dem wir reden und verstehen können. Das ist der beste Weg, um die vielen Erlebnisse und Gefühle aufzuarbeiten. Da ist das Gefühl, nicht geliebt zu werden, keine Familie zu haben, eine riesige Verantwortung zu tragen, immer helfen zu wollen. Mittlerweile sind wir auch in Einzeltherapie. Wir sind nicht allein. Mit unseren Onkel, Tanten und Großeltern reden wir über die Alkoholkrankheit unserer Mutter, sogar vor Freunden und Arbeitskollegen trauen wir uns, die Sucht in der Familie anzusprechen. Wir sind wirklich nicht allein, denn infolge unserer Offenheit erfahren wir von vielen anderen, dass sie dieses Problem kennen. Neuanfang im Denken und im Glauben. Ich lerne damit zurechtzukommen, dass ich keine Mutter habe, mit der ich einkaufen gehen oder ein normales Gespräch führen kann. Ich versuche, mir nicht ständig Gedanken und Sorgen um meine Mutter zu machen. Ich begreife Schritt für Schritt, dass ich ein wertvoller Mensch bin und dass ich mir die Liebe nicht erarbeiten kann, nach der ich mich so sehr sehne. Für die Existenz des Blauen Kreuzes bin ich sehr dankbar. Die Leiter der Begegnungsgruppe  sind Christen. Anfang 2007, nachdem ich ein Jahr lang in die Gruppe kam, haben sie mich besucht und mir von Jesus erzählt. In einem gemeinsamen Gebet habe ich mein Leben Jesus anvertraut. Das war der schönste Tag in meinem Leben. Mit der Hilfe Jesu kann ich heil werden und mit der Hilfe der Menschen aus der Blaukreuz-Gruppe kann ich lernen, mich so zu verhalten, dass es mir gut geht. Ich liebe meine Mutter sehr. Jeden Tag denke ich an sie und bete für sie. Falls sie mich irgendwann um Vergebung bittet, möchte ich ihr sagen können, dass ich ihr schon längst vergeben habe. Aber wenn das niemals passieren sollte, ist es nicht schlimm. Wichtig ist, dass ich mit dem zurechtkomme, was mir passiert ist.
Das lerne ich gerade