„Andere trinken doch auch!“

Christina räumt ihren Schreibtisch auf, spitzt Bleistifte an, hängt Ordner weg. Sie schließt das Büro ab. Wieder ist sie die Letzte. Macht nichts. Daheim wartet keiner. Sie läuft den langen Gang entlang, vorbei an den verschlossenen Bürotüren. Dieser Gang macht ihr immer etwas Angst. Sie weiß nicht warum.

Unterwegs kauft sie ein wenig zum Abendbrot ein, ein halbes Brot, etwas Aufschnitt. Und drei Flaschen Sekt. Sie kann es sich leisten. Andere sitzen abends zu zweit bei Kerzenschein, hören Musik und trinken doch auch. Es gibt keinen Grund, auf ein Glas Sekt zu verzichten, nur weil sie alleine lebt. Christina will es sich heute Abend richtig gemütlich machen. Sie zündet die schmalen Kerzen in dem Messingleuchter an, schaut in das flackernde Licht, träumt. Nach dem zweiten Glas Sekt spürt sie wohlige Wärme in sich aufsteigen und fühlt sich schon viel entspannter. Als es an der Wohnungstür klingelt, lässt sie mit wenigen raschen Bewegungen die Sektflasche verschwinden, tauscht sie blitzschnell mit Selters aus der Küche, öffnet dann. Die Nachbarin ist es. Ob sie ihr einen Zwanziger wechseln könne, sie wollte sich noch am Automaten Zigaretten holen. „Natürlich, bitte, kommen Sie einen Augenblick herein!“ Später holt Christina den Sekt wieder hervor. Warum eigentlich die Heimlichtuerei? Sie weiß es selber nicht. Andere trinken doch auch! Christina schenkt nach. Bald ist die Flasche leer. Zeit, ins Bett zu gehen. Die schläfrig machende Wirkung des Sekts bleibt diesmal aus. Lange liegt Christina noch wach. Am folgenden Morgen fühlt sie sich elend. Diese Gleichgewichtsstörungen. So kann sie auf gar keinen Fall arbeiten. Christina ruft in der Firma an: „Ja das alte Leiden, der Kreislauf, Wahrscheinlich das Wetter, Schwindelgefühl. Ja, ich gehe noch heute zum Arzt. Ich melde mich danach.“ Das Wartezimmer ist fast leer. Auf dem Tisch liegen Zeitungen und Broschüren. Das Foto auf einem Faltblatt lenkt ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigt einen weiten gepflasterten Platz und rechts oben in der Ecke einen Menschen, der auf seinem Schatten zurückblickt. „Du kannst nicht über deinen Schatten springen“, geht es Christina durch den Kopf. Sie greift nach dem Faltblatt, um sich ein wenig abzulenken. Aber als sie liest, um was es da geht, erstarrt ihr Blick. Es ist ein „Fragebogen für Alkoholkranke“. Hat der Arzt das für sie…..? Ist das Absicht? Wie kommt der überhaupt darauf! Eine bodenlose Gemeinheit! Die nächste Patientin wird aufgerufen. Christina spürt, dass ihr die Handflächen feucht werden. Auch unter den Achseln schwitzt sie plötzlich stark und am Rücken. Sie muss hier raus, hier bekommt sie ja kaum noch Luft. Hastig springt Christina auf. Sie greift das Blatt. Nicht, dass ein anderer mitbekommt, was da vor ihrem Platz gelegen hat. Sie steckt es in die Handtasche und verlässt die Arztpraxis, als sei sie auf der Flucht.

„Mich betrifft das eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht richtig“, versucht Christina sich zu Hause zu beruhigen. „So schlimm ist das mit mir nicht. Da gibt es ganz andere. Ich kann jederzeit aufhören. Was rege ich mich auf? Ich bin doch keine Säuferin.“ Sie sucht nach einem Stift. Das Blatt fordert sie auf, zutreffendes anzukreuzen. Insgesamt sind es achtzig Fragen. Anfangs scheinen sie recht harmlos. Eberhard Rieth, der diesen Fragebogen entwickelt hat, spricht von der voralkoholischen Phase, vom Erleiterungstrinken. Er holt weit aus. Aber von Frage zu Frage zieht sich das Netz enger Zusammen. Christina hat den Stift nicht benutzt. Wozu auch? Nein, ganz so schlimm ist es mit ihr noch nicht. Noch keine Trugwahrnehmungen. Sie ist doch keine Säuferin. Richtige Säufer, das sind die Penner im Stadtpark. Sie hat Arbeit, und die tut sie zuverlässig, seit zweiunddreißig Jahren. Alles ganz korrekt. Sie hat eine nett eingerichtete Wohnung. Sie hat noch nie in einer der Kneipen der Kleinstadt gesessen oder gar betrunken in der Gosse gelegen. Sie doch nicht. Mal ein Gläschen Sekt oder zwei, das ist doch nichts Schlimmes. Sie kann dann einfach besser schlafen. Und den Schlaf braucht sie doch. Christina wehrt sich gegen den Gedanken, vom Alkohol abhängig zu sein. Und doch findet sie keine Ruhe mehr. Sie hat es ja längst gemerkt: Sie trinkt anders als andere. Sie trinkt heimlich. Sie sorgt für Reserven. Sie versteckt die Flaschen vor unliebsamen Augen. Sie braucht Sekt und Wein und auch hin und wieder ein Glas Wodka, um gegen die depressiven Stimmungen anzugehen. Sie hält das Alleinsein nicht anders aus. Sie hält den Stress nicht anders aus. Sie hält sich selber nicht anders aus. Sie kann nicht einschlafen ohne Schlaftrunk. Sie kann nicht in den Tag gehen ohne Muntermacher. Kontrollverlust? Süchtig? Mit diesen Wörtern kann sie nicht viel anfange. Fest steht, wenn sie nicht aufpasst, geht es bergab mit ihr. Doch geht es das nicht längst?

Also Schluss damit. Christina sucht alle Flaschen zusammen. Sie lässt den Korken knallen zur Feier des Tages, schenkt sich ein Glas ein, ein letztes, schluckt, schaut zu, wie der restliche Sekt in das Abwaschbecken fließt, nein, es ist nicht schade darum. Sie wird es sich beweisen, dass es auch so geht. Sie wird es diesem Eberhard Rieth beweisen. Schluss damit! Einsamkeit, Schlaflosigkeit, Depressionen, Stress, Probleme – nichts davon lässt sich einfach wegkippen. Christina weiß das und sie hat Angst davor. Sie hat Angst, wieder zu trinken. Sie hat Angst, ohne Alkohol in der Angst zu ertrinken. Und dann diese furchtbare Unruhe. Christina zwingt sich, nicht zu trinken. Sie nimmt Medikamente, die den gleichzeitigen Alkoholgenuss verbieten. Das soll ihr helfen, stark zu bleiben. Aber sie ist nicht stark. Sie fühlt sich schwach. Sie fühlt sich klein. Sie fühlt sich wertlos. Immer häufiger schluckt sie Tabletten, mal diese, mal jene, um sich zu beruhigen, um schlafen zu können, um arbeiten zu können. Und bald kann sie ohne diese Tabletten keine Nacht mehr schlafen, keinen Tag mehr arbeiten. Sie kann nicht mehr leben ohne die kleinen runden Lebenshilfen. Was nützt es, zu heulen und die Dinger im Klo herunterzuspülen? Im nächsten Moment läuft sie ja doch wieder los, um sich in der Apotheke neue zu besorgen. An solchen Tagen hasst sie sich. Diese Tage werden häufiger.

„ Siehe ich mache alles neu.“ Fünf Wörter. Christina liest sie auf dem Weg in die Firma im Schaukasten der Stadtkirche. Der Satz beschäftigt sie. Alles neu. Das wäre schön! Wenn das ginge! Christina bleibt stehen. „Jeder ist herzlich eingeladen“, liest sie. „Für Menschen die ihrem Leben einen neuen Sinn geben wollen.“ Warum soll sie nicht einmal hingehen? Zeit hat sie genug. „Und das Vaterunser bekomme ich auch noch zusammen“, denkt Christina, als sie abends die Kirche betritt. Ganz hinten sucht sie sich einen Platz. Sie fühlt sich etwas fremd unter den anderen. Trotzdem geht sie am nächsten Abend wieder hin. Sie bleibt auch zu den Gesprächsrunden hinterher, allerdings eher als stille Zuhörerin. Es kommt ihr vor, als hätte sie sich in einem Fadengewirr verstrickt. Einsamkeit, Alkohol, Tabletten. Die Fäden ziehen sich mehr und mehr zu.

Fünf Monate später. Seit zehn Wochen geht Christina regelmäßig zu einer Suchttherapeutin. Die hat sie bei einem der Vortragsabende kennen gelernt. Hinterher war sie einfach sitzen geblieben, auch noch, als alle anderen nach Hause gingen. Sie blieb. Sie wagte vorsichtig ein paar Fragen. Sie fasste Vertrauen. Nun geht sie regelmäßig zur Beratung, schon die zehnte Woche. Sie hat in der Zeit viel über sich selbst erfahren und über Suchtverhalten. Sie weiß jetzt, dass Alkoholismus eine unheilbare Suchtkrankheit ist und dass sie diese Sucht auf Tabletten verlagert hat – bis zum nächsten Rückfall. Sie erkennt: So kann nichts Neues gelingen. Was notwendig ist: Ihr Leben braucht einen neuen Inhalt. Christina ist selbstsicherer geworden durch die Gespräche. Es tut ihr gut, dass einer zuhört und sie versteht, sie annimmt und konfrontiert. Ja auch konfrontiert: Mit der Vergangenheit. Mit Schuld. Mit ihren Ängsten und Ausflüchten. Sie spürt, dass in ihrem Leben allmählich etwas neu wird. Sie ahnt, sie wird noch einen weiten Weg zu gehen haben. Gut, dass sie ihn nicht alleine gehen muss. Neben ihr ist die Suchttherapeutin. Und sie geht den Weg gemeinsam mit einer Blaukreuz-Gruppe. In der Gemeinschaft ist es leichter, der Sucht zu wiederstehen.

Es ist Donnerstag. Um neunzehn Uhr beginnt die Therapiestunde. Christina räumt ihren Schreibtisch auf. Sie schließt das Büro ab. Sie läuft beschwingt den langen Gang entlang. Die verschlossenen Türen jagen ihr keine Angst mehr ein.

Für sie hat sich eine andere Tür geöffnet.