„Bitte, Lieber Gott, mach dass er nicht reinkommt“

Am frühen Morgen, fünf Minuten vor sechs, es wurde gerade hell, da brachten sie ihn. Zwei Männer führten ihn. Er stammelte wirres Zeug. Sein Hemd hing heraus. Jetzt sah ich es mit eigenen Augen: Das war also der Grund, warum es am Abend öfter ein Geschrei gab. Was ich befürchtet hatte, war nicht mehr verdrängbar.


Eine andere Situation. In einer halben Stunde gibt es die Spätnachrichten. Meine Schwester und ich sind bereits im Bett. Papa ist wieder weg. Ich kann nicht einschlafen, solange er nicht zurück ist. Unten läuft der Fernseher. Da kommen Schritte. Ich höre, wie die Haustürklinke niedergedrückt wird. Ist er es? Hoffentlich oder auch nicht!

Mutter macht auf. Er ist es! Er mosert schon wieder im Flur herum. Die Stimmen werden lauter. Ich verstehe bloß Wortfetzen. Dann kommt die Tante, Papas Schwester, zu uns ins Zimmer. Ich stelle mich schlafend, horche aber noch genauer hin. Jetzt geht jemand die Treppe hoch. Es ist Mutter. Ich höre, wie sie schnell geht. Dann ist Stille. Er muss noch unten sein. Ist er eingeschlafen? Soll ich runtergehen und ihn wecken, oder soll ich so tun, als müsste ich aufs Klo und dabei nach ihm schauen? Oder soll ich jetzt nicht endlich einschlafen?

Da geht unten die Türe. Er kommt die Treppe hoch, schwerfällig, und dann auf die Tür meines Zimmers zu. Ist sie abgeschlossen? Oh, mein Gott, sie ist nicht abgeschlossen! Was mache ich denn, wenn er jetzt reinkommt, wie beim letzten Mal? “Bitte, lieber Gott, mach, dass er nicht reinkommt!“ Er geht vorbei. „danke, lieber Gott!“ Die Tür zum anderen Zimmer knallt. Dann ist Ruhe. Endlich1

Ein anderer Tag. Vater kommt gerade heim. Ich beeile mich mit dem Essen. Ich will fertig werde, bevor er wieder anfängt zu „predigen“, und will mich dann verziehen. Ich kann sein Predigen und das Geschrei nicht mehr hören. Er kommt herein, setzt sich hin, grinst widerlich und stinkt ekelig aus dem Mund. Es würgt mich. Erbrechen könnte ich mich! Aber er scheint guter Laune zu sein. Es geht heute wohl ohne Streit ab. Oder? Er fängt an übers Fernsehprogramm zu lamentieren, wie man sich sowas überhaupt anschauen könne. Niemand von uns erwidert etwas. Es ist so sinnlos, wie gegen eine Schallplatte anzureden. Ich gehe in mein Zimmer will Musik hören, richtig schön laut und dabei alles vergessen und verdrängen. Aber es klappt nicht so richtig. Immer wieder drehe ich die Musik leise, horche nach unten, ob es krach gibt, ob ich helfen muss, ob meine Mutter mich braucht. Aber es passiert lange Zeit nichts. Ich gehe nach unten und schaue fern. In Wirklichkeit aber will ich sehen, was los ist. Die Anderen tun so, als ob Vater Luft wäre. Er sitzt am Tisch, den Kopf in den Händen. Als er etwas sagen will, merke ich, dass er weint, so richtig jämmerlich weint. Ich schaue fragend zu den anderen hin. Die lassen sich davon nicht beeindrucken. Nun beginnt es in mir zu wühlen. Ich gehe wieder nach oben zu meiner Musik. Ich lasse sie laut spielen, aber ich höre nicht hin. Ich liege auf dem Bett und weine auch, richtig jämmerlich! Was hat er da zum Schluss gesagt? Nun hätten wir es endlich geschafft! Wir hätten ihn da wo wir ihn hinhaben wollten, am Boden. Ja er liegt am Boden. Aber nun soll ich auch noch daran Schuld sein? Ich kann es nicht ertragen so einen ungerechten Vater zu haben.

Ein andermal. „Ihr habt keine Ahnung, wie es in der Welt aussieht“, lamentiert mein Vater wieder. „Das siehst du doch selber am wenigsten. Du kennst nur das Wirtshaus und deine Kumpane. Du bist ja dauernd betrunken. Du bist gar nicht mehr nüchtern“, gebe ich zurück. „Und du musst erst einmal Geld verdienen, bevor du solche Ansprüche stellst.“ – „Ja, das ist es, was du mir immer vorwirfst, weil du mir das Studium nicht gönnst. Du würdest die paar Mark, die ich von dir bekomme, am liebsten auch noch versaufen.“ Er: „ich kann mit meinem Geld machen was ich will. Das geht dich gar nichts an, verstehst du! Verdiene erst mal was, dann kannst du mitreden, oder ist es dir schon mal schlecht gegangen? Du hast doch alles, was du brauchst!“ – Nein, ich brauche inen Vater!„ Ich bin verzweifelt, weine und renne fort. Andere Kinder sind stolz auf ihren Vater und sagen es auch. Und ich? Ich muss mir von ihm sagen lassen, dass ich ihn zugrunde richte, obwohl er doch in Wirklichkeit uns zugrunde richtet. Nein, einem solchen Menschen kann ich kein Vertrauen entgegenbringen, keine Liebe schenken, ihm nicht glauben, ihn nicht ernst nehmen. Vor einiger Zeit gab ich ihm den Mündigkeitsstatus eines Fünfjährigen. Ich begann, über ihn zu lächel. Seitdem habe ich eigentlich keinen Vater mehr. Von da an war ich erwachsener als er.