Ich muss das Ganze einfach loswerden.

-Brief der 16jährigen Sandra an ihren alkoholabhängigen Vater zum Beginn seiner stationären Behandlung-

Lieber Papa!
Weshalb ich Dir schreibe ist nicht, dass ich Dir wehtun will, sondern weil ich Dir ganz einfach im nüchternen Zustand mal vor Augen halten will, wie weh Du mir getan hast. Ich hoffe, dass Du mich jetzt, wo Du nicht mehr trinkst, verstehst!

Euer Ehestreit!
Jeden Abend, seitdem Du weg bist und ich im Bett liege, höre ich Dich und Mama laut und deutlich streiten. Genauso, wie es immer gewesen ist, wenn Du da warst. Zuerst stand ich immer auf, um zu lauschen, mit wem Mama sich streitet. Aber oben war alles still. Legte ich mich wieder hin, hörte ich Mama oder Dich wieder schreien. Das Ganze war erst vorbei, wenn ich mir die Bettdecke über den Kopf zog. Inzwischen stehe ich nicht mehr auf, weil ich ganz genau weiß, oben ist alles ruhig. Aber die Bettdecke muß ich mir immer noch über den Kopf ziehen, sonst schlafe ich nicht ein.

Meine Scham!
Wenn meine Freunde kamen habe ich immer gedacht: Hoffentlich liegt er im Bett oder ist heute einigermaßen normal. Aber wenn Du dann doch wieder im Sessel hingst, schliefst oder gebrüllt hast, habe ich mich so sehr geschämt, jemanden mit nach Hause zu bringen. Auch fand ich es fürchterlich, wenn Du endlich zu Hause warst. Mir war es auch immer peinlich, wenn Dich jemand im besoffenen Zustand sah. Ich glaube, unsere Nachbarn kommen deshalb nicht mehr zu uns, weil sie mitbekommen haben, was bei uns los ist.

Meine Lügen!
Ich fand es auch schrecklich, dass ich so viel wegen Dir gelogen habe. Als Du in der Psychiatrie warst, habe ich meinen Freundinnen gesagt, Du wärst zur Kur wegen Deiner Knochen.
Melanie antwortete ich auf ihre Frage nach Dir: „Was? Du hast meinen Vater schon so lange nicht mehr gesehen? Ich sehe ihn jeden Abend!“ Ich log ihr vor, Du würdest so viele Überstunden machen. Selbst wenn wir ohne Dich zu Familienfeiern gefahren sind und von Oma nach Dir gefragt wurden, mussten wir Kinder lügen. Ich konnte einfach nicht sagen: „Vater hat wieder getrunken“

Meine Angst!
Wenn Du und Mama Euch gestritten habt, habe ich immer gebetet: „Bitte, lieber Gott, lass ihn die Mama nicht schlagen“. Du bist ja viel stärker als Mama. Ich hatte so viel Angst. Danke Papa, dass Du dies nie getan hast, dass Du uns wenigstens körperlich ganz gelassen hast. Papa sag mal, warum war ich eigentlich die einzig, mit der Du ein vernünftiges Gespräch geführt hast? Warum konntest Du dies nicht auch mit Mama? Sie wollte Dir doch helfen! Wenn Sie das nämlich nicht wollte, hätte sie dich schon längst rausgeschmissen. Du kannst von Glück reden, die Mama als Deine Frau zu haben!

Mein Misstrauen!
Am aller Schlimmsten fand ich, dass ich Dir nicht mehr vertrauen konnte. Du hast nur noch gelogen und zum Schluss musste ich wegen Dir sogar mein Zimmer immer abschließen. Gestern bin ich mit dem Bus durch W. gefahren. Dort saß ein Mann, dem ich sofort ansah, dass er ein Alkoholiker ist. Die rote aufgequollene Nase, sein rotes Gesicht, hat alles verraten. In dem Moment habe ich überlegt, ob die Leute, wenn sie Dich sahen, dies genauso gedacht haben wie ich.

Unsere Familie!
Ich fand es auch nicht in Ordnung, dass Du Dich aus unserem Familienleben total rausgehalten hast. Dich hat nichts mehr interessiert außer: “Wie komme ich an meine Flasche?“ Ich hätte gerne etwas mit Dir unternommen, aber Du wolltest nicht. Sag mal, warum hast Du Dir eigentlich eine Familie angeschafft, wenn Dich nichts in der Familie interessiert? Du hast nicht nur Dich, sondern auch deine Familie und Dein Haus verkommen lassen. Auch Dirk wäre so gerne mal mit Dir ins Stadion gegangen, Rad gefahren oder hätte mit Dir gerne mal gesielt. Das war aber nie möglich. Denn entweder warst Du gar nicht ansprechbar oder er hörte Dein: „Nein!“ Ich hoffe, Du wirst, wenn Du wieder nach Hause kommst, für uns ein besserer Vater sein. Ich erinnere mich noch an früher, bevor Du richtig mit dem Trinken anfingst. Du warst für mich damals ein guter Vater. Ich möchte doch gerne meinen alten Vater wiederhaben. So wie er vor dem Alkoholtrinken war! Mir tat es auch immer weh zu sehen, wenn Mama gerne etwas mit Dir allein unternommen hätte /z.B. spazieren oder zu Freunden gehen, ins Theater) es aber nicht konnte, weil Du immer betrunken warst und abgeblockt hast. Ich dachte, Du bist Ehemann und Vater geworden, weil Du für uns da sein wolltest, etwas mit uns erleben wolltest, ja weil Du uns liebst. Stattdessen habe ich das Gefühl, Du wolltest uns nur, um Pascha zu spielen und uns zu tyrannisiere. Ist das wirklich so? Ich hoffe nicht!

Meine Hoffnung!
Papa, ich habe Dich doch trotz allem lieb und möchte Dich nicht verlieren! Du weißt, was alles auf dem Spiel steht, wenn Du es dieses Mal in Radevormwald nicht schaffst. Du wirst alles verlieren! Ich glaube aber an Dich. Du wirst es schon schaffen. Der Alkohol ist nicht das Leben. Du wirst sehen, wie toll das Leben ohne Alkohol ist. Wir, Deine Familie, werden Dir sehr dankbar sein, wenn Du es schaffst. Du musst es nur wollen und Mut und Hoffnung haben. Natürlich wirst Du jetzt viel Kritik hinnehmen und Dir vieles anhören müssen, was Dir wohl gar nicht gefällt. Oh Gott, ich höre mich schon wie eine Psychologin an und mache wohl besser mal Schluss.-

Ich musste das Ganze einfach mal loswerden. Im Rausch hast Du ja gar nicht mehr gemerkt, was Du tatest. Ich hoffe, Du siehst es jetzt ein, dass Dein Verhalten nicht richtig war.

Ich wünsche Dir viel, viel Mut! Mach‘s gut

Deine Sandra

PS: Ich hab Dich lieb! Du wirst es schon schaffen!

Wir möchten Dich durch unsere Liebe, unser Vertrauen in Dich und unsere Hoffnung an Dich stärken. Helfen kannst Du Dir aber nur alleine. Du weißt doch: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Papa, ich glaube fest an Dich. Du hast bestimmt diesen Willen und dadurch schaffst Du es. Du musst Dir immer wieder selbst Mut zusprechen wie z.B.: „Ich will, also schaffe ich das auch!“

Daran glaubt

Deine Sandra