„Weihnachten war immer das Schlimmste!“

„Sti-hil-le Nacht, heilige Nacht…“ Wenn ich an Weihnachten mit meinen Eltern denke, höre ich immer dieses Lied. „Stille Nacht, heilige Nacht…“ Hoffentlich ist es bald wieder vorbei. Meine Weihnachtserlebnissehaben dazu geführt, dass ich sehr schnell merke, wenn Menschen Rituale befolgen, ohne darüber nachzudenken.

Der Geburtstag des Gottessohnes – eigentlich ein hoffnungsvoller Gedenktag – bedeutet für mich: Drei Tage mit der Familie zwischen Tannenbaum, Schallplattenapparat, Fernsehen und Esstisch eingesperrt zu sein und verzweifelt zu versuchen, den Frieden aufrechtzuerhalten, den es schon lange nicht mehr gab. An den Weihnachtsfesten in meiner Jugendzeit wurde schon am Morgen des Heiligen Abends sichtbar, wie der Tag verlaufen würde, denn der Tagesrhythmus und die Gesamtstimmen waren abhängig vom Alkoholgehalt im Blut meiner Mutter. War sie morgens gegen elf Uhr schon betrunken genug, schlief sie den Nachmittag über. Anschließend hatte sie zwar zunächst einen Kater, aber gegen den trank sie in der Regel an und hielt bis etwa dreiundzwanzig Uhr einen Alkoholpegel, mit dem sie friedlich blieb. Trat die Trunkenheit erst gegen Nachmittag auf, zog sie meist ohne Vorankündigung das Abendessen vor und schlief anschließend ein. Oder es blieb beim geplanten Zeitablauf und alles konnte in sehr gereizter Stimmung enden. Wirklichen Streit gab es eigentlich nie an Weihnachten. Aber das war ja das Schlimme daran: diesen Zustand zu vermeiden, kostete noch mehr Energie als die Bewältigung des „normalen“ Alltags in einer Alkoholikerfamilie.

Und immer brannte der Tannenbaum und immer dudelte die Platte dazu oder sang ein Chor im Fernsehen. „Sti-hil-le Nacht, heilige Nacht…“ Die Katastrophe trat jedoch für mich dann ein, wenn meine Diagnose über den wahrscheinlichen Verlauf des Heiligen Abends nicht eintraf. Einmal vermutete ich, meine Mutter würde voraussichtlich bis achtzehn Uhr schlafen und das Abendessen etwas später eingenommen werden als sonst. Ich schmückte den Tannenbaum, es war gegen fünfzehn Uhr. Plötzlich lag eine andere Stimmung in der Luft. Irritiert ging ich in die Küche und fand meine Mutter sturzbetrunken über den Kochtöpfen stehend vor. Sie hatte die Geschenktüte für die Mitarbeiter aus der Firma meines Vaters entdeckt, in der sich unter anderem ein halber Liter Schnaps zum Einmachen von Früchten befand. Meine Mutter hielt eine Zigarette in der Hand, deren Asche in den Rotkohl zu fallen drohte. Beim ersten Wort das ich an sie richtete, griff sie zum Aschenbecher und warf ihn nach mir. Ich weiß nicht mehr, wie die Situation endete, ich weiß nur noch, dass sich irgendwann an diesem Abend alle Beteiligten zur Bescherung und zum Abendessen zusammenfanden. Und die Schallplattenmusik durfte natürlich auch nicht fehlen.

Mit freundlicher Genehmigung! Aus dem Buch "Das schaffen wir" Hrsg. Werner Brück Erhältlich im Blaukreuzverlag